der stand der technik
a3BAU Ausgabe 1-2/2011:
In einer aktuellen Entscheidung hat sich der Oberste Gerichtshof (OGH) mit der Frage beschäftigt, ob die Einhaltung der Vorschriften der niederösterreichischen Bauordnung sowie der niederösterreichischen Bautechnikverordnung das Bauunternehmen entlastet. Im Gegensatz zu den Unterinstanzen hat der OGH diese Frage verneint.
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Der beklagte Bauträger hatte auf einer Liegenschaft eine Reihenhausanlage, bestehend aus insgesamt 10 Reihenhäusern, errichtet. Die Kläger hatten vom Bauträger zwei Reihenhäuser gekauft und in weiterer Folge gegen den Bauträger Klage mit dem Begehren eingebracht, das Gericht möge den Bauträger schuldig erkennen, den mangelhaften Schallschutz zwischen den Reihenhäusern entsprechend den baurechtlichen Vorschriften und gemäß dem Stand der Technik zu sanieren. Bei ihrem Klagebegehren haben sich die Kläger auch darauf berufen, dass der für die Reihenhäuser vorgeschriebene Mindestschallschutz gemäß der NÖ Bautechnikverordnung (NÖ BTV) sowie der ÖNORM B 8115-2 vom 1.10.1998 nicht erreicht werde.
In weiterer Folge haben sowohl das Erstgericht als auch das Berufungsgericht das Klagebegehren der Wohnungseigentümer abgewiesen. Die Unterinstanzen beriefen sich dabei auf die einschlägigen Vorschriften der NÖ BTV. Demnach müsse ein Bauwerk betreffend Schallschutz derart geplant und ausgeführt werden, dass der von den Benützern oder von in der Nähe befindlichen Personen wahrgenommene Schall auf einem Pegel gehalten werde, der nicht gesundheitsgefährdend sei und bei dem zufriedenstellende Nachtruhe-, Freizeit- und Arbeitsbedingungen sichergestellt seien. Die Unterinstanzen vertraten in rechtlicher Hinsicht die Meinung, dass die NÖ BTV die speziellere Vorschrift gegenüber der nicht verbindlichen ÖNORM B 8115-2 vom 1.10.1998 darstelle, weshalb zur Beurteilung des gegenständlichen Falles die Schallschutzanforderungen der NÖ BTV heranzuziehen seien. Im Verfahren vor dem OGH brachten die klagenden Wohnungseigentümer vor, dass die in der NÖ BTV enthaltenen Grenzwerte nicht dem Stand der Technik entsprächen. Sie vertraten den Standpunkt, dass die genannte Verordnung lediglich die technischen Anforderungen an Bauwerke für den öffentlich rechtlichen Bereich festlege, während die ÖNORM auf private Verträge anzuwenden sei.
Der OGH hat der Revision der klagenden Wohnungseigentümer Folge gegeben. Er hat ausgesprochen, dass mangels ausdrücklicher Regelung im Bauvertrag bei der Werkherstellung auch die jeweils anerkannten Regeln des maßgebenden Faches anzuwenden sind. Im Bereich der Bauwirtschaft sind dies die allgemein anerkannten Regeln der Bautechnik und Baukunst. Was das Verhältnis zwischen den (technischen) ÖNORMEN und den allgemein anerkannten Regeln der Bautechnik und Baukunst (kurz: Regeln) anbelangt, so verwies der OGH gemäß ständiger Rechtsprechung darauf, dass die ÖNORMEN mit den Regeln nicht gleichgesetzt werden dürfen, weil die ÖNORMEN – wegen möglicher Überalterung – hinter den Regeln zurückbleiben können. Es könne zwar fürs Erste davon ausgegangen werden, dass die ÖNORMEN die Voraussetzungen der Regeln erfüllen, sodass der Auftragnehmer mit der Erbringung des Beweises, die ÖNORMEN beachtet zu haben, dem ersten Anschein nach beweist, dass er auch die Regeln eingehalten hat. In diesem Fall liege es am Auftraggeber darzutun, dass die ÖNORMEN – atypischer Weise – hinter den Regeln zurückgeblieben sind, weil sich diese (die Regeln) seit der Ausgabe der ÖNORM weiterentwickelt haben.
Aus diesem Grund erkannte der OGH, dass die Einhaltung der Schallschutzwerte gemäß der NÖ BTV nicht ausschließt, dass neben dem in der NÖ BTV normierten Schalldämm-Maß auch die Standard-Schallpegeldifferenz laut ÖNORM B 8115-2 hergestellt werden musste.
Die Schlussfolgerung aus der oben angeführten aktuellen höchstgerichtlichen Entscheidung ist folgende: Die bloße Einhaltung der einschlägigen öffentlich rechtlichen Vorschriften (insbesondere Bauordnung, BTG, BTV…ect.) entlastet den Werkunternehmer nicht. Das Bauwerk, das unter Verstoß gegen die Vorgaben des öffentlichen Baurechts errichtet wurde, ist zivilrechtlich allein schon deshalb mängelbehaftet, ohne dass es darauf ankommt, ob der Bauvertrag selbst insoweit irgendwelche einschlägigen Regelungen enthält. In der baurechtlichen Praxis stößt man immer wieder auf die irrige Ansicht, dass das Bauwerk mangelfrei sei, weil ja die bauordnungsrechtlichen Vorschriften eingehalten worden seien. Diese Ansicht ist jedenfalls dann unzutreffend, wenn die allgemein anerkannten Regeln der Technik höhere Anforderungen an ein Bauwerk stellen, als dies die öffentlich rechtlichen Bauvorschriften tun. Insbesondere dann, wenn (technische) ÖNORMEN höherwertige Anforderungen enthalten, wird in aller Regel der Standard der ÖNORMEN maßgebend sein. Wenn im Bauvertrag die Anwendung der ÖNORM B 2110 vereinbart wurde, sind damit ohnehin sämtliche in Betracht kommenden, im ÖNORMEN-Verzeichnis enthaltenen Normen technischen Inhalts „automatisch“ mit vereinbart.